Fragment ins Deutsche

Eine Welt ohne mich

(Fragment)

 

Ins Deutsche übersetzt von Roland Erb

 

“Das ist für dich…”

Der Pfirsich schien in seiner ausgestreckten Hand wie etwas Lebendiges zu zittern, und seine schwere, saftige, von schrägem Licht durchbrochene Dichte zerschmolz zu einer transparenten Kontur. Und als ich ihn ansah, geschah es plötzlich, ohne dass mich die unmerklichste Warnung darauf vorbereitet hätte. Ich kann nicht sagen, dass ich zu schreien begonnen hätte, da es einen solchen Augenblick nicht gab oder ich ihn jedenfalls nicht in mein Ohr aufnahm; ich schrie auf ganz ungewöhnliche Weise, als hätte ich dies schon immer getan, vor allem aber, als gäbe es kein Anzeichen dafür, dass ich je damit aufhören könnte.

Dann schien es mir, als hätte er mir eine Ohrfeige gegeben, etwas, was noch nie passiert war. Doch in diesem Augenblick wunderte mich viel mehr als das die Art, wie jener ungehemmte, betäubende Strahl, der gewissermaßen außerhalb von mir und auch aus mir selbst hervorbrach, so unerwartet, wie er zustande gekommen war, versiegte, ohne die Spur eines Echos zu hinterlassen, das mir in den Ohren sirren konnte. Als ob der Schrei niemals ertönt sei. So dass ich eine Zeitlang fast imstande gewesen wäre mir zu sagen, dass in Wirklichkeit gar nichts vorgefallen sei. Dies aber – war es denn möglich, dies nicht zu wissen? – schien nur ein jämmerlicher Aufschub zu sein. Denn ich habe es ja unablässig vor Augen: seine ausgestreckte Hand; den grünlichen Schatten, in dem ich ihn erblickt hatte, als er mir den Pfirsich gab, der mehr als lebendig aussah; den fast endlosen und sicher heillosen Schrei; und das Entsetzen, das ich allenfalls aufschieben konnte.

Und seit ich ihn dort allein gelassen hatte, mit jenem grünen, an seinem Gesicht klebenden Schatten, geschah nichts anderes, an das ich mich erinnern konnte. Von der Tatsache abgesehen, dass sich der Abend herabsenkte und dass niemand in der Nähe war… Der Tag schrumpfte zwischen den Zweigen mit verstohlenen, schlafäugigen Unterströmungen von Schwermut. Je nachdem, wie er vom leichten Wind getragen wurde, brach der von den Sammlern unter den Nussbäumen aufgescheuchte Duft des Laubes bald ungestüm hervor, bald verrann er träge zwischen den Grashalmen und umschwebte die Stille mit seinem etwas bitteren Schweigen. Ich ging auf Zehenspitzen wie auf einem Friedhof, dann plötzlich rannte ich los. Mit gedämpftem Prasseln breiteten die auf dem Boden verstreuten Nussschalen unter meinen Fußsohlen ihre dichte, immer größer werdende Schicht auf der vom grünen Geruch verwirrten Erde aus, es war Dämmerung und Betäubung, und ich war ein schlaftrunkenes Tier, und vielleicht hätte nichts die Wildheit des Augenblicks unterbrochen, wenn ich nicht zufällig auf etwas anderes gestoßen wäre. Die Asche eines kürzlich erloschenen Feuers wirbelte empor. Ich setzte mich neben die Brandstelle, suchte mit den Händen nach der Wärme, die nicht mehr vorhanden sein konnte, und bestreute mir Knöchel und Gesicht mit der Asche.

Hier im Garten wurde es rasch dunkel. Zuerst veränderte das Gras unmerklich seine Farbe und sank zu einer kaffeebraunen, immer dunkleren Asche zusammen, auf der manchmal der Widerschein des Sonnenuntergangs funkelte und sie sanft und von ferne mit vorgetäuschtem Auflodern entzündete. Dann, ohne Vorankündigung, war nichts mehr als Dunkelheit ringsum. Das Spitzengewebe des Laubes verschwand völlig und versteinerte zu so dichtem Schwarz, dass allmorgendlich eine meiner ersten Tätigkeiten darin bestand, mit den Fingern über den scharfen Rand einiger Blätter zu fahren, um mich davon zu überzeugen, dass ihnen nichts passiert war. Mit ihrer fast vollkommenen Symmetrie existierten alle Blätter, aber auch jedes einzelne allein, für mich nur in der geheimnislosen Klarheit des Tages. Und wenn die Nacht trockenes oder vom Wiegen der über dem Mond aufgetürmten Wolken beruhigtes Rascheln wiedergab, war ich sicher, dass nicht das Laub sich damit von seiner Reglosigkeit befreite, sondern dass der Wind oder vielleicht das Zerreißen des Nebels zwischen den Zweigen jenen zitternden Atem geweckt hatte, der keinem Geräusch ähnelte, das man bei Tageslicht vernehmen konnte.

Ich hatte keine Angst. Wenn ich manchmal erbebte, weil sich irgendein blindes Vogelflattern aus einer anderen Welt auf mich herabzustürzen schien und mir so nahe kam, dass ein Flügel aus gefrorener Luft meinen Scheitel berührte, dann bedeutete dies nicht, dass ich Angst hatte… Einige Dinge stimmten mich jedoch nachdenklich. Und wenn dort unten…? begann eine der Fragen, bei denen ich am häufigsten stockte. Hier ist das Gras spärlich, mit Nussbaumblättern bestreut – ich fühle es; ein paar Schritt weiter erhebt sich, vor Alter verstümmelt, die Krone des Apfelbaumes mit dem Stamm einer glitschigen Schlange – ich kann ihn eben noch erkennen; dann kommt das Gestrüpp der Kletten – ich errate sie; und unten im Tal ist das Haus mit der Treppe, die mich zum Licht geführt hat – ich kann es nur vermuten. Doch wenn mich dort unten vielleicht gar nichts mehr erwartet? Wenn, vom Angriff der Dunkelheit hinterrücks zermalmt, das Haus, die Stufen und das Licht sich in ewig im Raum herumirrenden, sinnlosen Staub verwandelt haben?… Weiter vermochte ich nicht zu denken. Das Los meiner Angehörigen, die dort ahnungslos, hilflos und allein – das heißt, ohne mich – zurückgeblieben waren, konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Denn, einmal an dieser Stelle angekommen, weigerte ich mich, die Gedanken schweifen zu lassen und hatte dennoch das unwiderstehliche Gefühl, dass sich die erschreckende Erscheinung noch nicht zur Hälfte offenbart hatte. In solchen Augenblicken dröhnte mir der glühend-eiskalte Schwall des Blutes wie Donner in den Ohren und ließ mich auf der Stelle erstarren. Worauf dann jedes Mal – wie auch gerade jetzt – der Alptraum einer zusammenhanglosen, stolpernden Hetzjagd, die gleichzeitig langsam wirken sollte, bis unter die von Quittenbäumen gebildete Wölbung folgte. Von hier sah man das Licht des Hauses. Ich weiß nicht warum, doch ich habe mich nie davon zu überzeugen gesucht, dass all diese Kühnheiten nur eingebildet waren, obwohl es mir die durch stete Wiederholung erhärtete Offensichtlichkeit beweisen musste: immer erstrahlte das Licht ebenso unabänderlich, ob draußen Sternenhimmel, Sprühregen oder Unwetter war; niemals war es den Stufen in den Sinn gekommen – und es wäre auch gar nicht möglich gewesen -, unter meinen Füssen zu versinken. Und dennoch hielt die Spannung alle Muskelfasern noch eine Zeitlang gefangen; sie zitterten leicht wie die Schneide meines ins Holz gestoßenen Messers, wenn ich eine Geschichte spielte, in der sich ein einäugiger Seeräuber, ein paar Schatzgräber und der Säbelschlucker vom Zirkus in bester Gesellschaft befanden.

Ich trete abrupt und gewissermaßen festen Schrittes ins Haus, wobei ich die Tür öffne und sie mit offensichtlicher Nachlässigkeit laut hinter mir zuschlage, damit ich nicht eines anderen Vergehens verdächtigt werde. Das hätte zur Folge haben können, dass ich mich beruhigte. Beispielsweise würde mir die Großmutter zum tausendsten Male zurufen “Die Türen werden zugemacht, nicht zugeknallt” und mich tadelnd über ihre Brillengläser hinweg ansehen.

“Und der Zahnstocher wird nicht heruntergeschluckt, man steckt ihn zwischen die Zähne und raucht ihn”, hätte ich dann vielleicht, und nicht nur in Gedanken geantwortet.

Und dies nicht aus bodenloser Frechheit, sondern eher aus dem Bedürfnis nach Variation. Solche häufig und selbstsicher wiederholten Floskeln verlockten mich stets, sie nachzuahmen, sie zu entstellen und alle Absonderlichkeiten zu ersinnen, mit denen sie auf den Kopf gestellt werden konnten, wenigstens ab und zu. Es war wie in den Momenten, wenn ich mir mit dem Rosensorbet der Großmutter – den ich wahnsinnig gern aß – den Bauch vollgeschlagen hatte und mich die Lust anwandelte, mir den zuckrigen Mund mit der Säure einer Waldfrucht abzustumpfen.

Doch offenbar gab es auch einen tiefer liegenden Grund dafür, denn mein Spiel schien manchmal recht ernst zu sein. Die Türen werden zugemacht, nicht zugeknallt – sehr richtig und gut bemerkt. Aber so richtig, dass man die Worte jederzeit aussprechen konnte, bei guten und schlechtem Wetter, im Warmen und im Kalten. Mit der unerschütterlichen Überzeugung, dass sie die Pflicht hatten, einem zu nützen und dass man selbst die Pflicht hatte, sie sich zum Besten ausschlagen zu lassen.

(Was keineswegs heißen soll, dass ich mich nicht ebenfalls mancher Floskel bediente; aber ich suchte sie mir, so weit es ging, selbst aus und passte sie, soweit es glückte, dem jeweiligen Umstand an. Es genügte mir zum Beispiel, an den blauen Zigarettendunst zu denken, der ihn immer umgab: auch dies war so etwas wie eine Floskel, und eine der wunderbarsten überhaupt. Sooft ich jedoch meine Zuflucht zu ihr nahm, tat ich es nur nach langem quälenden Zögern. Zunächst, weil ich argwöhnte, dass es in erster Linie nicht meine Floskel war, sondern seine. Und dann, weil ich, obwohl ich nicht den geringsten Zweifel hegte, dass es die oberste Pflicht der Floskeln war, einem zu nützen, aber ganz und gar nicht davon überzeugt war, dass sie in einer anderen Hinsicht von großer Hilfe waren: nämlich in der Verpflichtung, einem selbst zum Besten auszuschlagen.)

Also trete ich abrupt und gewissermaßen festen Schrittes ins Zimmer und werfe die Tür geräuschvoll hinter mir zu. Das hätte mich beruhigen können, wenn auch auf andere Weise. Zum Beispiel wäre es möglich gewesen, dass mich die Großmutter nicht ausgeschimpft hätte, sondern dass sich die Dinge wie folgt entwickelt hätten: “Kommt es mir nur so vor, oder hat dich tatsächlich etwas erschreckt?” hätte er gefragt und das Messer in der kreisenden Bewegung angehalten, die den schon halb geschälten Apfel umgab.

“Weißt du, dass der Leuchtkäfer nichts weiter ist als ein Wurm?” hätte ich ihm geantwortet, mit einer Erklärung, die nur zum Teil erfunden war. Denn ich tat weiter nichts, als ein älteres Entsetzen auf diesen Augenblick zu übertragen: das Entsetzen über die schändlichste Entdeckung, die ich an einem der letzten Abende gemacht hatte. Ja, ich weiß, dass der Leuchtkäfer nichts weiter ist als ein Wurm, der aber ein Leuchtkäfer ist, hätte er mir antworten können. Und das wären genau die Worte gewesen, mit denen ich mich an jenem Abend getröstet hatte.

Nur, dass weder er noch Großmutter im Zimmer waren. Nur sie war zugegen. Und auf einmal wurde mir bewusst, dass, da immer die Rede davon war, dass ich mich beruhigen müsse, die Tatsache, dass ich sie allein antraf, die beste Lösung sein könnte. Ja, aber unter der einen Bedingung, dass sie mich nicht so ansieht. Oder besser gesagt, dass sie mich ansieht, dass sie mich wirklich ansieht. Soweit ich es beurteilen kann, sehe ich, wenn ich eine Sache betrachte, sie richtig an – zumindest, soweit sich eine Sache überhaupt ansehen lässt. Bei ihr aber bin ich mir nie allzu sicher, ob sie die Dinge wirklich sieht. Was, und mehr denn je in diesem Moment, der Tatsache gleichkommt anzuerkennen (dies tue ich auch, und nicht zum ersten Mal, doch stets fällt es mir genauso schwer), dass ich mir nie sicher bin, ob sie mich wirklich sieht. Jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

In der Tat, wenn von ihr die Rede ist, dann ist nichts wirklich sicher. Nicht einmal, ob ich mich tatsächlich schuldig gemacht habe, oder ob ich im Gegenteil höchstes Lob verdiene. Die anderen sagten mehr oder weniger deutlich, dass ich mich wirklich wunderbar verhalten hätte – oder aber, dass es sich sicher nicht gehörte, dies und jenes noch einmal zu tun; je nachdem, wie sich die Umstände gerade verhielten. Und da sie immer mit der gleichen Elle maßen, ordneten sich meine Taten (ganz ähnlich wie die Stricknadeln der Großmutter, die im Schubfach der Größe nach angeordnet waren) fast von selbst in eines der gut voneinander getrennten Fächer ihrer Verbote oder Zustimmungen ein. Es war wie ein recht bequemer, ebener Weg: man brauchte ihm nur aufmerksam zu folgen, um die Gefahr zu vermeiden, sich in dem stets veränderlichen Dickicht aller erdenklichen Fehler zu verirren – das vielleicht gerade deshalb auch voller Verlockungen war.

“Wo hast du dich denn so schmutzig gemacht?”

Die Frage ließ mir den Atem stocken. Ich wusste natürlich, dass alles von ihr zu erwarten war. Und dass einem nichts anderes übrig blieb, als die Welt nach dem Aussehen zu verändern, das sie ihr im nächsten oder übernächsten Augenblick verlieh, sie mit der von ihr ausgewählten Farbe zu tünchen und den Dingen genau jene Bedeutung beizumessen, die sie – es war nicht herauszufinden, nach welchem Prinzip – dafür aufgestellt hatte. Gewöhnlich tat ich es auch so. Es war nur so, dass der heutige Abend allem Anschein nach aus der Art geschlagen war. Denn sonst wäre es mir nicht zum allerersten Mal so vorgekommen, als ob meine etwas zu großen Augen (ich verbarg sie, so gut es ging, unter den Lidern) und die etwas verkrampften Hände und Arme (ich versteckte sie bis zu den Ellbogen in der Tasche) sich dennoch das Recht erworben hätten, wichtiger zu sein als meine von Asche geschwärzten Kleider.

Doch wie wäre es, wenn ich mich jetzt auf den Fußboden fallen ließe und nicht wieder aufstünde? geht es mir blitzschnell durch den Sinn. Gleichzeitig weiß ich sehr gut, dass ich es nicht tun werde. Wenn ich irgendein Recht gehabt hätte, dann wäre es offensichtlich das der Art und Weise gewesen, wie ich im Zimmer erschien: abrupt und gewissermaßen festen Schrittes und mit zu großen Augen. So dass das sich zu Boden Werfen entweder eine schamlose Lüge oder bestenfalls ein auf unredlich gewundenen Pfaden erworbenes Recht bedeutet hätte. Und um diesen Preis hatte ich weder Lust auf die Dielenbretter noch auf meine Rechte. Umso mehr, als es mit Sicherheit nur eine weitere vergebliche Lust gewesen wäre. So dass ich ihr statt dessen mit großer Ruhe antwortete:

“Ich bin von einem Hund angeschmiert worden und gestolpert über das Morgen.”

Sowie ich den Satz gesprochen hatte, heftete ihr das Entsetzen meinen Blick ans Gesicht, als sei ich daran festgenagelt… Wenn die Großmutter da gewesen wäre, hätte sie gezittert und den Fächer der Spielkarten aus der Hand fallen lassen. Dann hätte sie mich wegen meiner unbedachten Worte laut beschimpft, ohne doch zu vermuten – oder im Gegenteil sehr wohl vermutend – , dass ich diesen enormen Blödsinn absichtlich verzapft hatte, einzig und allein, damit man mir zuhörte…

Aber Großmutter ist nicht da; also schimpft mich niemand aus. Sie beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie sie mir saubere Kleidungstücke zusammensucht. Für heute? Für morgen? Wer kann etwas begreifen von der Eile, mit der sie die Schränke auf- und zumacht, herumstöbert, Sachen durcheinander wirft, auseinander faltet, zusammenlegt, wobei sie Haufen von Kleidungsstücken glatt streicht oder geradezu zerknüllt? Die aber wachsen unaufhörlich an – Erhebungen, Hügel, ganze Berge – und quellen auf wie Sauerteig; es scheint unmöglich, dass sie einer jemals wieder zusammenpressen könnte. Und dennoch, wenn man am wenigsten darauf gefasst ist, nehmen alle Dinge wie durch ein Wunder wieder ihr ursprüngliches Aussehen an. Doch es war überhaupt kein Wunder, begann ich jetzt zu verstehen. Erst wenn sich jemand tatsächlich beeilte (es scheint, als sähe ich die Großmutter in einer Lage wie dieser, wenn sie unzählige Male ihre Brille verlor – sie behauptete mit aller Entschiedenheit: “Ich habe meinen Kopf verloren!” – , wenn sie sich die Finger verbrannte, der Katze auf den Schwanz trat und danach ihre kostbare Zeit damit vergeudete, ihr teuflisches Jaulen mit Entschuldigungen und tränenreichen Liebkosungen zu lindern: ein Höllenspektakel); erst dann wäre Grund vorhanden, sich darüber zu wundern, dass sie sich so ungewöhnlich gut in dem entstandenen Wirrwarr zurechtfand. Ihre Eile aber, so seltsam dies scheinen mag, hatte keinerlei Beziehung zur Zeit, zu der Tatsache, dass sie die begonnene Arbeit möglichst schnell abschließen wollte oder musste. Und was bedeutet schließlich eine Eile, die sich in Wirklichkeit gar nicht beeilt? So wie in anderen Fällen die Langsamkeit ihrer Bewegungen nicht viel besagt, in Augenblicken, die ebenso keinem Zweck unterliegen und keiner Notwendigkeit gehorchen. Beides ist nur das deutlichste Zeichen dafür, dass sie sich nicht im geringsten dafür interessiert, was sie gerade zu tun hat. Nichts ist natürlicher, als dass einen dann die Art und Weise nicht kümmert, wie man es tut. Schnell oder langsam, fein oder grob, ordentlich oder wirr durcheinander – all das ist völlig unwichtig. Sie schien jetzt einem Automaten mit gestörtem Rhythmus zu gleichen, der mit großen, langsamen, majestätischen Gesten im Tempo eines Trauermarsches strickte, während sie das Kristallgeschirr dagegen mit teuflischer Geschwindigkeit handhabte.

Inzwischen begann die Großmutter – ich weiß nicht, wann sie eingetreten war – ihre abendliche Patience zu legen, wobei sie so tat, als ob ringsum nichts Besonderes vorgefallen sei. Nur dass ihre vorgetäuschte Ruhe nicht den Wirrwarr der durcheinandergeworfenen Dinge, der sinnlos geöffneten und geschlossenen Schubladen besänftigen konnte. Und all das wegen der vermaledeiten Strümpfe! dachte ich und fühlte, dass ich, wenn der Lärm noch länger dauerte, so schnell wie möglich aus dem Zimmer verschwinden musste. Wenn er doch wenigstens hier wäre, sagte ich mir, wobei ich die Tür im Auge behielt. Oder wenn nicht er selbst, so doch wenigstens sein blauer Zigarettendunst, der sich stets weich über alle Geräusche im Hause wölbte; dann begannen sie zu schweigen, und das Gesicht der Dinge erglänzte in einer Art blauer Versöhnung.

“Geh und wasch dich, wohin rennst du denn jetzt schon wieder?”

vernehme ich die Stimme der Großmutter in der Sekunde, da ich die Tür erreiche.

Ich benötige keinen Spiegel, um zu wissen, wie ich aussehe. Ich kann mich vom Kopf bis zu den Füßen sehen, schwarz, zerkratzt, völlig zerzaust. Und sie hat mich nicht einmal ausgeschimpft, weil ich mich schmutzig gemacht habe. Ich spüre nicht den geringsten Anflug von Reue… So ging es immer. Wenn es sich um sie handelte, dann nahm der von den anderen deutlich vorgezeichnete Weg eine verwirrende, ermüdende Unfestigkeit an. Ich trabte sorglos auf den Steinen dieses Weges dahin, doch plötzlich erwachte ich und war bis zum Hals im Schlamm versunken. Obwohl ich, wie ich beschwören konnte, keinen Schritt zur Seite getan hatte, doch der Weg war auf einmal davon geglitten und – wer weiß wie und wann – spurlos unter den Füßen verschwunden…